"Musica e um mundo" (Musik ist eine Welt)
Ein persönlicher Erlebnisbericht über die
Entstehung des deutsch-brasilianischen Musikworkshops "Bonn-Bahia" in vier Etappen
Im folgenden Text berichte ich über mehrere Aufenthalte in Brasilien, die mich der "Musica Popular Brasiliera" näher brachten. Durch die Beschäftigung mit brasilianischer Musik lernte ich junge Musiker aus einem Elendsviertel in Salvador da Bahia kennen, mit denen mich trotz aller sozialen und kulturellen Unterschiede eines verbindet: Die Freude am gemeinsamen Musizieren. Ich berichte im Folgenden nicht von sozial- oder musikwissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern beschreibe Eindrücke und Erlebnisse, Ideen und Überlegungen bei der Entstehung eines interkulturellen Musikprojekts.
Prolog:
Meine Liebe zu Brasilien entdeckte ich im Sommer 1992. Damals reiste ich mit dem Orchester der Universität Bonn zum ersten Mal nach Südamerika. Wir begaben uns auf eine Konzertreise, die uns nach Uruguay, Argentinien und Chile bringen sollte. Da unser Flugzeug auf dem Hinflug einen technischen Schaden hatte, saß das ganze Orchester einen Tag lang auf dem Flughafen von Rio de Janeiro fest. Ich vertrieb mir die Zeit mit meinem Walkman. Eine Kassette schien dem Anlaß genau passend: Toots Thielemans: "The Brasil Project". Auf dieser Aufnahme spielte der belgische Mundharmonikavirtuose gemeinsam mit den Größen der "Musica Popular Brasileira". Eine paradoxe Situation: Da war ich mitten in Brasilien und lauschte den bekanntesten Musikern dieses Landes, saß aber im Transitbereich von Rios Flughafen wie in einem Käfig gefangen. Nach zwölf Stunden Aufenthalt überflogen wir den Moloch Rio de Janiero mit Blick auf Ipanema, Copacabana, Corcovado und den Zuckerhut in Richtung Montevideo.
Nach der dreiwöchigen Reise hatte mich das Südamerikafieber endgültig gepackt. Leider aber mit einer Einsicht: Ich hatte zwar Uruguay, Argentinien und Chile besucht, aber nichts von schwarzen Südamerika gesehen. Denn wer die drei oben genannten Länder bereist hat, weiß, daß man dort eher auf Europas Spuren wandelt. Hinterlassenschaften italienischer, spanischer und deutscher Einwanderer finden sich überall. Die Urbevölkerung hingegen wurde mit den spanischen bzw. portugiesischen Eroberungen zumeist radikal in den Tod getrieben. Auch die Urbevölkerung Brasiliens wurde von den Portugiesen vernichtet. Die Kultur Brasiliens unterscheidet sich aber deutlich von der Uruguays, Argentiniens und Chiles, denn vier bis fünf Millionen Afrikaner wurden in der vier Jahrhunderte währenden portugiesischen Kolonialzeit nach Brasilien verschleppt -etwa zehnmal soviel wie in die USA. Überall sind heute die Spuren der portugiesischen Sklaveneinfuhr deutlich zu sehen und zu hören: Man schaue sich die brasilianische Fußballnationalmannschaft an: Sie besteht fast ausschließlich aus schwarzen Spielern, die seit den fünfziger Jahren Fußball als Kunst zelebrieren. Und dann erst die Musik: Die "Musica Popular Brasiliera" besitzt andere Rhythmen und Harmonien, die oft auf "Mama Africa" verweisen.
Kurzum: Brasiliens Klänge üben seit damals einen starken Reiz auf mich aus. Diese Musik bietet etwas anderes als das tägliche Einerlei in unseren Medien. Was genau die Musiker in diesem von Nasallauten nur so wimmelnden brasilianischem Portugiesisch sangen, konnte ich zwar zunächst nicht verstehen, aber die "Musica Popular Brasiliera" entführte mich musikalisch in eine andere Welt. Nach meinem ersten Südamerikaaufenthalt ließen mich diese Rhythmen und Harmonien nicht mehr los, meine CD-Sammlung wuchs dementsprechend kräftig an, denn in unseren grauen Wintermonaten waren Samba und Bossa Nova genau das richtige Gegengift.
1. Etappe:
Im Jahr 1997 gab es überraschend ein Wiedersehen mit brasilianischem Boden. Ich war mittlerweile in das Akademische Orchester der Universität Bonn (das sogenannte "Ehemaligen-Orchester") eingetreten und wir hatten das Angebot erhalten, für zwei Wochen nach Salvador da Bahia zu fliegen, um dort mit Solisten der Dresdner Semper-Oper Beethovens "Fidelio" aufzuführen. Salvador da Bahia, das Zentrum der brasilianischen Musik. Habe ich oben behauptet, ich hätte die Texte meiner Lieblingsmusik nie verstanden, so stimmt dies nicht genau, denn von Salvador da Bahia, des musikalischen Zentrums Brasiliens, war fast in jedem zweiten Song die Rede. Natürlich gab es da kein langes Zögern und Überlegen, alle Termine bezüglich meiner Dissertation mußten zwei Wochen ruhen, diese Chance würde sich kein zweites Mal auftun.
Mitte Juli flogen wir für zwei Wochen in den brasilianischen Bundesstaat Bahia. Untergebracht in einem Luxushotel, probten wir eine Woche zusammen mit den Dresdner Solisten im "Theatro Castro Alves" und gaben in der zweiten Woche dort mehrere Vorführungen vor jeweils ausverkauftem Haus. Da die Nachmittage und späten Abende zur freien Verfügung waren, blieb genug Zeit, Salvador näher zu erkunden. Salvador da Bahia ist die älteste Stadt Brasiliens und die barocke Architektur der Altstadt, die die Unesco in den achtziger Jahren zum Weltkulturerbe erklärte, kundet von ihrer herausragenden Stellung in der Kolonialzeit. Die barocken Fassaden wurden in den letzten 15 Jahren systematisch renoviert. Wer den Film "Buena Vista Social Club" gesehen hat, hat eine Vorstellung vom Charme verfallener Barockfassaden. Dies ist aber nur eine Seite. Über die Hafenstadt Salvador wurden die meisten afrikanischen Sklaven ins Land gebracht. Demzufolge ist Salvador heute das schwarze Zentrum Brasiliens, denn 75 Prozent der Bevölkerung Salvadors besitzen eine dunklere Hautfarbe. Das ist der große Unterschied gegenüber den Städten Sao Paulo oder Rio de Janeiro, wo der Anteil der "hellhäutigen" Bevölkerung bedeutend höher ist. Aber was heißt schon in Brasilien "hellhäutig"? Den Abstufungen der dunkleren Hautfarben sind keine Grenzen gesetzt und so könnte man zu dem Schluß kommen, daß die brasilianische Gesellschaft wirklich der "Melting Pot" sei, den die Politiker gerne propagieren. Aber es scheint in Brasiliens Gesellschaft ein unsichtbares Gesetz zu wirken: Je hellhäutiger du bist, um so höher dein sozialer und ökonomischer Status. Wer in Brasilien den Fernseher anschaltet und durch die zahllosen Sender zappt, der sieht ein verkehrtes Bild: Auffallend viele blonde Frauen spielen in den Telenovellas (den Seifenopern) mit, und wenn überhaupt ein schwarzer Brasilianer mitspielt, dann mimt er die Rolle des Gärtners oder einer ähnlichen Berufsstellung.
Dies steht alles im Gegensatz zur brasilianischen Realität, von der wir bei unserem ersten Aufenthalt 1997 wohlbehütet und abgeschottet waren. Wir zeigten in einem der großen Theater Brasiliens europäische Opernkunst, aber was hatte "Fidelio" mit Brasilien und besonders dem Leben in Bahia zu tun? Wir wurden abends zu Empfängen eingeladen und lernten die zumeist hellhäutigere High Society Salvadors kennen, die die europäische Kunst und Kultur über alles schätzt. Das Ganze geschützt von einem organisierten Securitydienst. Wer aber durch die Stadt Salvador fährt, kann ein anderes Brasilien kennenlernen: Die Stadt ist durchzogen mit sogenannten Favelas (Slums), in denen zumeist schwarze Brasilianer unter einfachsten Bedingungen wohnen. Offizielle Schätzungen gehen davon aus, daß 50% der Bevölkerung Salvadors in solchen einfachen bzw. ärmlichen Verhältnissen lebt. Unser Konzertorganisator vor Ort warnte uns mehrmals, diese einfachen Viertel zu besuchen. Wir sollten uns auf die Hauptattraktionen der Stadt beschränken. Kurz um, uns wurde die "Sonnenseite Brasiliens" präsentiert.
2. Etappe
Im nächsten Sommer wurde unser Orchester überraschend wieder eingeladen. Natürlich freute ich mich darüber, zweimal hintereinander innerhalb von 400 Tagen nach Südamerika zu fliegen. Einige der Musiker hatten für den zweiten Besuch Salvadors einen Vorsatz getroffen: Dieses Mal wollen wir auch die brasilianischen Realität kennenlernen. Eine Cellistin des Orchesters, im bürgerlichen Beruf praktizierende Ärztin, hatte in den vergangenen Wintermonaten den Misereor-Fastenkalender aufmerksam studiert und wurde dort auf ein vom Aachener Hilfswerk gefördertes Entwicklungshilfeprojekt in Salvador aufmerksam. Sie nahm schnell entschlossen Kontakt mit Misereor auf und erfuhr, daß es in Salvador einen deutschen Journalisten gebe, der vor Ort diese Aktivitäten unterstütze. Das erste Telefonat von Bonn nach Salvador wurde getätigt und für die anstehende Konzerttour ein Treffen auf brasilianischem Boden vereinbart.
An einem probefreien Morgen trafen wir dann Martin, den deutschen Journalisten, in Salvador, um mehr über Entwicklungshilfeprojekte in Salvador zu erfahren. Martin hatte einen Bus gechartert und führte uns in ein Kinderdorf in einem Randbezirk Salvadors, in dem ungefähr ca. schwarze 60 Kinder lebten. Kinder, die von ihren Eltern ausgesetzt wurden oder auf der Straße gelebt hatten. Im Kinderheim lebten sie in sechs Wohngemeinschaften zu ca. 10 Kinder, die jeweils von einem Elternpaar als Ersatzeltern betreut wurden. Die Leitung des Hauses hatte ein Jesuitenorden, der wiederum eine Organisation namens CEAS gegründet hatte. Schon der Empfang war überwältigend: Wir wurden mit afro-braslianischen Rhythmen auf dem Hof des Geländes begrüßt (wobei es sich bei diesem Gelände um eine alte Fabrikhalle mit kleinen Wohn- und Arbeitshäusern handelte). Pater Alfredo, der Leiter der Organisation, klärte uns über die Arbeit seiner Organisation auf und zeigte, daß gemeinsames Musizieren der Jugendlichen einen Schwerpunkt in der Konzeption von CEAS bildete. Das äußerte sich schon darin, daß innerhalb des Kinderheims zwei Sambabands und eine Tanzgruppe existierte. Tief beeindruckt von der Lebensfreude der Jugendlichen, die sie durch ihre Musik vermittelten, fuhren wir wieder in unser Hotel. Martin bot uns an, am nächsten Tag mit Interessierten ins "Bairro da Pax", dem selbsternannten "Friedensviertel" zu fahren. Gerne nahmen wir an. Das "Bairro da Pax" ist eine "Favela", ein Armenviertel, wie sie in Salvador hundertfach existieren. Unweit des Flughafens leben in diesem Viertel ca. 60.000 zumeist schwarze Menschen in selbstgezimmerten Hütten auf einfachsten Niveau. Das Viertel wurde in den achtziger Jahren von der Landlosenbewegung auf einem Gebiet aufgebaut, das eigentlich Baugrund der Kommune Salvador war. Die Landlosen besetzten dieses Gebiet, weil im inneren Stadtgebiet Salvadors kein Wohnraum gemäß ihren finanziellen Möglichkeiten existierte. Wir wurden in das Gemeindezentrum des Viertels geführt, einer großen Holzhütte, in der die CEAS die Gemeindearbeit mit einem Priester und einer Sozialarbeiterin unterstützt. Da es vorher heftig geregnet hatte, war der lehmige Boden der Wege völlig aufgeweicht und wir bekamen eine leise Ahnung von den Lebensbedingungen im Viertel. Natürlich hatten wir Bedenken, als ‚Touris‘ in dieses Viertel zu kommen und als "Gaffer" in diese Lebenswelt einzudringen. Aber Martin hatte uns in einer längeren Diskussion erklärt, daß es die Bewohner freuen würde, wenn Fremde Interesse für ihr Viertel zeigten. Unser Besuch sei daher eine Ehre für die Bewohner, sonst würde sich keiner für ihre Belange interessieren.
Wir erfuhren etwas über die Lebensbedingungen des Viertels: Seit kurzem Stromzähler existiere erst im Viertel Stromzähler (vorher wurde der Strom schwarz angezapft), Wasser müsse vom Brunnen geholt
werden (über die Wasserqualität wurde nicht geredet). Eine kleine Radiostation hatte neuerdings die Aufgabe, die wichtigsten Neuigkeiten im Viertel zu verbreiten. Ein großes Problem schien die Schule
im Viertel zu sein, weil der Staat die Lehrer nicht richtig bezahle und der Unterricht daher meistens ausfallen müsse.Nach dem kleinen Situationsbericht wurde uns auch bei diesem Empfang wieder Musik
dargeboten: Ein Band namens "Beija Flor", (die "Kolobris") spielte für uns "Samba-Reggae" der härteren Gangart. Zwölf junge Musiker zwischen 16 und 22 und zwei Sängerinnen brachten die große
Holzhütte zum Beben. Percussive Musik mit einer Power gespielt, die durch Mark und Bein ging. Afro-Reggae ist die populäre Musik Salvadors, eine Sambarichtung, die sich z.B. vom Samba Rio des
Janeiros durch andere rhythmische Akzentuierungen unterscheidet. Wer denkt, daß Reggae eine Erscheinung der siebziger Jahre war und der Kult um diese ursprünglich jamaikanische Musikrichtung nicht
mehr lebe, der wird in Salvador eines besseren belehrt. In Salvador erblickt man die sogenannten "Reggaefarben" rot, gelb und grün überall. Das Konterfei von Bob Marley oder von Jimmy Cliff hängt an
jeder Ecke. Sie sind die Exponenten eines neuen schwarzen Selbstbewußtsein, das sich in den letzten fünfzehn Jahren besonders stark in Salvador entwickelt hat. Und genau darauf zielt die Arbeit von
CEAS. Sie unterstützt die Entwicklung dieses schwarzen Selbstbewußtseins über die musikalische Arbeit mit Jugendlichen: Sie sollen lernen, ihre eigenen schwarzafrikanischen Wurzeln und Kultur
wertzuschätzen,. So wie die jungen Musiker von "Beja Flor" ihren Samba spielten, hatten sie ihren Background erkannt. Als einige von uns als kleine Geste etwas vorspielten, war eine Idee geboren, die
im nächsten Jahr für einige von uns den dritten Brasilienaufenthalt in Folge bedeutete.
Genauer gesagt, waren es eigentlich zwei Ideen. Elfriede, die Ärtzin, dachte daran, im nächsten Jahr ihre Praxis in Deutschland für sechs Wochen zu schließen und im brasilianischen Kinderheim medizinische Hilfe zu leisten. Die zweite Idee entsprang in einem Gespräch mit einem befreundeten Hornisten des Orchesters. Odilo und ich waren 1996 auf Einladung des Deutschen Botschafters nach Madagaskar in der Hauptstadt Antananarivo geflogen. Wir probten dort eine Woche lang mit einheimischen Musiker und traten als Band gemeinsam auf dem dortigen Jazzfestival auf. Warum sollte sich eine solche Idee nicht auch mit brasilianischen Musikern verwirklichen lassen? Ein Unterschied war offensichtlich: Die Madagassen waren professionelle Musiker gewesen, die Brasilianer hingegen Jugendlichen, die keinerlei musikalische Ausbildungen besaßen. Wir kamen zu dem Schluß, daß wir bei einem solchen Projekt stärker auf die Brasilianer eingehen müßten. Die Idee war geboren und hielt auch im kommenden Herbst und Winter allen Diskussionen stand. Nach großen Finanzierungsproblemen, die durch die Hilfe von Misereor gemildert wurden, fuhren 12 Musiker aus dem Umfeld des Akademischen Orchesters im Juli 1999 zum dritten Mal in Folge nach Salvador, diesmal nicht, um eine europäische Oper für die Upper Class Brasiliens aufzuführen, sondern um gemeinsam mit Jugendlichen aus dem CEAS Kinderheim und dem "Bairro da Pax" zu musizieren.
3. Etappe
Diesmal war alles anders: Wir wohnten nicht in einem First-Class-Hotel, sondern waren in einem Exerzitienhaus der katholischen Kirche untergebracht. Wir musizierten auch nicht in einem großen Theater, sondern in der alter Fabrikhalle des Kinderheimes. Sieben Tage probten wir von morgens bis abends mit den Bands "Beja Flor", den "Moleques de Pagode" (zu deutsch: Pagode-Knilche, eine Band des Kinderheims, die besonders den Sambastil Pagode liebt) und einer Tanzgruppe, die ebenfalls unter der Betreuung von CEAS stand, bis wir ein abendfüllendes Programm auf die Beine gebracht hatten. Mancher Leser wird sich an dieser Stelle fragen, wie die Kommunikation zwischen den Musikern funktionierte, wo doch die wenigsten von uns portugiesisch sprachen bzw. die Brasilianer nicht unsere Sprache. Dieser Punkt ist eigentlich die Hauptaussage der hier aufgeschriebene Geschichte: Musik ist Kommunikation. Ein Musiker spielt dem anderen etwas vor, dieser spielt dazu einen Rhythmus oder improvisiert eine Melodie: Das Ganze entwickelt sich im wahrsten Sinne des Wortes spielerisch! Auch wenn die gesellschaftlichen Realitäten unserer beiden Kulturen und unsere sozialen Backgrounds gegensätzlich waren und sind, über gemeinsames Musizieren war eine Kommunikation möglich. Natürlich hatten wir zu Hause schon Sambas und Bossa-Novas eingeübt, um einen gemeinsamen Grundstock an Repertoire zur Verfügung zu haben, aber die letztendliche Form des Programms wurde erst vor Ort einstudiert. Es war ein gegenseitiges Lernen. Wir brachten ein paar Stücke mit, die wir für unsere Besetzung arrangiert hatten und die Jugendlichen hatten einige Songs, die sie gerne mit uns spielen wollten und welche wir dann in den Proben gemeinsam ausprobierten. In einer solchen Atmosphäre geschieht vieles nonverbal: Natürlich gab es einen Übersetzer, aber die eigentliche Kommunikation zwischen Musikern, die nicht die gleiche Sprache sprechen, geschieht mit Händen, Füßen und Mimik. Das war die große Erfahrung unseres gemeinsamen Workshops: Wir haben uns trotz aller sprachlichen, sozialen und kulturellen Gegensätzen gegenseitig etwas beigebracht, einer hat vom anderen gelernt.
Dies ließ sich schon in den drei anschließenden Konzerten hören: Das erste Konzert fand auf dem "Pelourinho" statt, dem historischen Altstadtviertel Salvadors. In diesem Viertel gibt es an verschiedenen Tagen der Woche auf mehreren Plätzen Livemusik. Für unsere brasilianischen Freunde ging damit ein Traum in Erfüllung: Nie hatten sie daran gedacht, einmal dort auftreten zu dürfen, wo ihre großen Vorbilder "Olodum" oder "Timbalada" regelmäßig ihre Shows aufführten.
Das zweite Konzert hatte für unser Projekt eine noch größere Wichtigkeit: Es fand im "Bairro da Pax" statt. Noch nie hatte es dort ein richtiges Konzert gegeben, erst recht nicht mit deutschen Musikern und noch außergewöhnlicher war, daß sich plötzlich TV Globo (Brasiliens größter Fernsehsender) für die Favella am Rande der Stadt interessierte. (Das später im Fernsehbericht meist die blonden Musikerinnen aus Deutschland gezeigt wurden, ist eine andere Geschichte und ein Beweis dafür, wie wenig Wertschätzung Menschen mit schwarzer Hautfarbe in den brasilianischen Medien zuteil wird.) Aber so erreichten wir Aufmerksamkeit für unser Projekt. Im Bairro da Pax besuchten nur Jugendliche das Konzert, die ihre Scheu erst nach und nach überwanden. Aber nach einer guten halben Stunde "bebte" das ehrwürdige Holzhaus der Gemeinde. Eine seltsame Situation: Wir spielten in einem Viertel, das man als Tourist aus Sicherheitsgründen nicht betreten sollte und in welchem die Militärpolizei regelmäßig erscheint und ihre Spuren hinterläßt. Wir spielten in einem Viertel, in dem die wenigsten Bewohner eine Arbeit haben und die Kriminalitätsrate entsprechend hoch ist. Aber es funktionierte, die jugendlichen Zuhörer nahmen unsere Musik an. (Daß nach dem Konzert die Polizei erschien und den Technikern gegenüber behauptete, die Verstärkeranlage sei gestohlen, daher nun konfisziert und daß nach zähen Verhandlungen die Anlage von den Polizisten gegen Dollars "zurückgekauft" werden mußte, ist nur eine weitere typische brasilianische Episode.)
Nach zwei Wochen flogen wir mit vielen Impressionen wieder zurück. Im Mitteilungsblatt von Misereor erschien ein großer Artikel, der den Spendern des Hilfswerk unser Abenteuer schilderte. Die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit von Misereor meldetet sich daraufhin und schlug vor, "Beja Flor" aus Anlaß der Fastenaktion im Jahr 2000 nach Deutschland zu holen. Es entwickelte sich daraus die Idee, eine weitere Workshopphase in Deutschland durchzuführen. Aber die eigentliche Frage war eine andere: Ist es sinnvoll, zwölf junge Menschen aus einer brasilianischen Favella nach Deutschland zu holen, hier mit ihnen eine Konzertreise durchzuführen und sie dann wieder nach Haus zu schicken. Lange Diskussionen in unserer Gruppe, auch mit Vertretern von Misereor, füllten diverse Abende. Das Für und Wider wurde abgewägt und wir kamen zu dem Schluß, daß eine solche Konzertreise für unsere brasilianischen Freunde nur sinnvoll sei, wenn es für die Brasilianer eine "Nachsorgepaket" gäbe; eine "Nachsorge" in dem Sinne, daß nach der Reise für die Musiker in ihrer Heimat eine Perspektive bestehen müsse. So verständigten wir uns mit Misereor, daß wir gemeinsam mit "Beja Flor" während des Deutschlandaufenthalts eine CD produzieren würden und danach mindestens zwei Jahr lang ein Weiterbildungsangebot für die Jugendlichen in Salvador bestehen sollte.
4. Etappe
Anfang März diesen Jahres war es dann soweit. 12 Musiker plus Begleitung standen dick vermummt im Ankunftsbereich des Frankfurter Flughafens: Vorausgegangen waren Monate der Vorbereitung: Alle erdenkliche Fragen wurden versucht, im Vorfeld zu klären: Welche Kleidung muß für die Jugendlichen hier besorgt werden? Was essen die Brasilianer am liebsten oder können unsere brasilianische Freunde überhaupt etwas mit deutschem Essen anfangen? Neue Trommeln wurden hier in Deutschland gekauft; paradoxerweise aus Brasilien importiert und für die jungen Musiker dort unerschwinglich. Am Ende der Vorbereitungen war (fast) alles geklärt: Wir hatten eine Woche Workshopphase über Karneval in einer Bonner Schule mit 15 deutschen und 12 brasilianischen Musikern geplant, sechs Konzerte gemeinsam mit Misereor zwischen Köln und Frankfurt organisiert, verschiedene Pressetermine arrangiert und ein Freizeitprogramm zusammengestellt. Immer wieder habe ich in diesen Tagen versucht, mich in die Gefühlswelt unserer Gäste zu versetzten: Wie wirkt unsere Kultur, wenn man aus einer solch gegensätzlichen Lebenswelt in die unsrige kommt? Entgegen aller Skrupel meisterte"Beija Flor" jedoch die drei Wochen in Deutschland mit Bravour. Wir probten während der Karnevalstage in der Bonner Liebfrauenschule. Unsere deutsche Band wurde um einen starken Bläsersatz erweitert und mit Patricia Cruz fand sich eine in Deutschland lebende brasilianische Sängerin für das Projekt. Die Zusammenarbeit funktionierte besser als im vorangegangenen Sommer; beide Seiten hatten von den Erfahrungen des ersten Workshops gelernt. Unterbrochen wurden die Proben von diversen Karnevalsfeierlichkeiten. Dies ist ein kulturelles Ereignis, daß in Brasilien genauso wie im Rheinland ekstatisch zelebriert wird. In diesem Zusammenhang seien nur zwei Ereignisse erwähnt: "Beija Flor" spielte auf einer großen Karnevalsparty der Bonner Polizei und brachte mit ihren Rhythmen viertausend Leute in südamerikanische Stimmung. Sicherlich werde ich auch nie vergessen, wie sie dem Straßenkarneval in der Bonner Altstadt vor, während und nach dem Rosenmontagszug einheizten. Beeindruckend war sicher auch der Moment als die Bahianer während einer Probe ihre Instrumente plötzlich zur Seite stellten, nach draußen ins Freie liefen und staunend in den Himmel sahen. Es schneite! Etwas, was sie zuvor noch nie erlebt hatten.odilo
Wir gaben nach der Probenphase gemeinsam sieben Konzerte zwischen Frankfurt und Köln, wobei sicherlich das Konzert in der überfüllten Bonner "Harmonie" das stimmungsvollste Konzert gewesen ist. Erstaunlich und erfreulich immer wieder, daß viele im Rheinland lebende "Exilbrasilianer" in die Konzerte kamen und von Anfang an die typisch deutsche Geste des konzertanten Zuhörens negierten und stattdessen sofort anfingen zu tanzen.
Nach drei Wochen flogen unsere Freunde wieder heim. Uns deutschen Musikern war allen unwohl zumute: Wie wird es ihnen in ihrer Heimat ergehen? Werden Sie ihre Eindrücke unserer Kultur verarbeiten können? Mir bleibt bei diesen Gedanken eine Szene im Gedächtnis: Der Fernsehsender 3Sat hatte einen kleinen Fensterbericht über den Workshop und die Konzerte erstellt und dabei auch den Trommler Robson interviewt. Robson erzählte die Geschichte der Band und beschrieb ihre Motivation zu musizieren. In diesem Fernsehbericht wurden auch Bilder aus dem Bairro da Pax eingearbeitet, Filmmaterial, welches Misereor zur Öffentlichkeitsarbeit weitergab. Dabei sah man die einzelnen Musiker, wie sie im Viertel lebten. Auch Robson wurde gezeigt, wie er täglich für seine Mutter Wasser aus einem Brunnen holte. Als wir auf unserem Abschiedsfest gemeinsam den Fernsehbericht sahen, kamen Robson die Tränen. Einerseits sah er sich hier im deutschen Fernsehen als gefeierter Musiker einer Band, andererseits konnte jeder Zuschauer sehen, unter welchen einfachen Verhältnissen er in seiner Heimat lebte. Er sagte uns, daß er sich für seine Herkunft schäme. Dies sind Eindrücke, die mich auch heute noch nachdenklich werden lassen.
Wie es jetzt weitergeht? Die oben schon erwähnte CD ist fertigstellt. Wir schnitten ein gesamtes Konzert für eine Live CD mit, um "Beija Flor" eine professionelle Aufnahme für ihr Fortkommen in ihrer Heimat zur Verfügung zu stellen. Misereor unterstützt in einem zwei Jahre dauernden Projekt die musikalische Weiterbildung auch anderer Kinder und Jugendliche aus dem Kinderheim und dem Bairro da Pax . Wir Bonner Musiker haben einen Verein gegründet, der die Musiker von "Beija Flor" finanziell unterstützten soll, vorausgesetzt, sie besuchen in den kommenden beiden Jahre eine berufsqualifizierende Schule, um sich so auch außerhalb der Musik ein Standbein aufbauen zu können. Wir haben in Salvador eine Managerin für musikalische und organisatorische Kontakte engagiert, damit "Beija Flor" auch in ihrer Heimat ein größeres Publikum findet.
Unser Verein nennt sich: "Musik ist eine Welt". Die CD soll helfen, fördernde Mitglieder und Sponsoren für unser Projekt zu finden. Wir hoffen, daß unser Projekt sich weiterentwickelt.
Wer unser Projekt unterstützten möchte, kann die oben erwähnte Live-CD (15,-€) erwerben oder eine Spende auf unser Sonderkonto überweisen. Infos und Kontakt: mail@markus-quabeck.de
Literaturempfehlungen:
Chris McGowan/ Ricardo Pessanha: The Brasil Sound. Samba, Bossa Nova und die Klänge Brasiliens. Hannibal, St.Andrä-Wördern.
Claus Schreiner: Musica Popular Brasileira. Handbuch der folkloristischen und populären Musik Brasiliens. Tropical, Darmstadt.
Tiago de Oliveira Pinto (Hrsg.): Weltmusik. Einführung in Musiktraditionen Brasiliens. Schott, Mainz.
CD-Tips:
Zwei Livealben der bekanntesten brasilianischen Sänger:
Caetano Veloso: Prenda Minha. (Polygram)
Gilberto Gil: Acoustic. (WEA)
Der beste Songschreiber war sehr wahrscheinlich: Antonio Carlos Jobim: Antonio Brasiliero (Columbia)
Zum Einstieg sehr zu empfehlen sind zwei Sampler:
Welcome to Brasil. Der Sampler wurde herausgegeben von der Zeitschrift Jazzthing.
Toots Thielemann: The Brasil Project Volume 1. (BMG).